Unterbringung in der geschlossenen Psychiatrie – und die erforderliche richterliche Sachaufklärung

Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen.

Die Freiheit der Person ist unverletzlich (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG). In diese Freiheit darf gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes eingegriffen werden. Inhalt und Reichweite eines freiheitsbeschränkenden Gesetzes sind von den Fachgerichten so auszulegen, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Wirkung entfalten. Ungeachtet des hohen Ranges des hier geschützten Grundrechts ist es allerdings auch in diesem Bereich in erster Linie Aufgabe der Fachgerichte, den Sinn des Gesetzesrechts mit Hilfe der anerkannten Methoden der Rechtsfindung zu ergründen und den Anwendungsbereich des Gesetzes zu bestimmen. Das Bundesverfassungsgericht kann erst korrigierend tätig werden, wenn das fachgerichtliche Auslegungsergebnis über die vom Grundgesetz gezogenen Grenzen hinausgreift, insbesondere wenn es mit Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf persönliche Freiheit nicht zu vereinbaren ist1.

Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt zum einen Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für eine hinreichende tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht2.

Zum anderen ist die Freiheit der Person ein so hohes Rechtsgut, dass sie nur aus besonders gewichtigem Grund angetastet werden darf3. Die Einschränkung dieser Freiheit ist daher stets der strengen Prüfung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu unterziehen. Sie ist in der Regel nur zulässig, wenn sie der Schutz der Allgemeinheit oder der Rechtsgüter anderer verlangt4. Indes kann sie sich auch durch den Schutz des Betroffenen rechtfertigen. Die Fürsorge der staatlichen Gemeinschaft schließt auch die Befugnis ein, den psychisch Kranken, der infolge seines Krankheitszustandes und der damit verbundenen fehlenden Einsichtsfähigkeit die Schwere seiner Erkrankung und die Notwendigkeit von Behandlungsmaßnahmen nicht zu beurteilen vermag oder trotz einer solchen Erkenntnis sich infolge der Krankheit nicht zu einer Behandlung entschließen kann, zwangsweise in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen, wenn sich dies als unumgänglich erweist, um eine drohende gewichtige gesundheitliche Schädigung von dem Kranken abzuwenden. Dabei drängt es sich auf, dass dies nicht ausnahmslos gilt, weil schon im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei weniger gewichtigen Fällen eine derart einschneidende Maßnahme unterbleiben muss und somit auch dem psychisch Kranken in gewissen Grenzen die „Freiheit zur Krankheit“ belassen bleibt5.

Diesen Maßstäben werden die hier angegriffenen Beschlüsse des Amtsgerichts Waren (Müritz)6 und des Landgerichts Neubrandenburg7 nicht gerecht.

Dabei bedarf im Hinblick auf die nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gebotene Aufklärung des Sachverhalts keiner Entscheidung, ob den Beschlüssen mit der ärztlichen Stellungnahme ein den Anforderungen des § 331 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 FamFG genügendes ärztliches Zeugnis zugrunde liegt. Dies begegnet Bedenken, da die Stellungnahme ausweislich des Stempels aus der Kinderklinik stammt, soweit ersichtlich ohne Untersuchung der Beschwerdeführerin erstellt und durch die behandelnde Ärztin erst vor dem Landgericht telefonisch ergänzt wurde. Die Frage bedarf indes keiner Entscheidung, da die angegriffenen Beschlüsse selbst bei Zugrundelegung dieser Stellungnahme und ihrer (fern-)mündlichen Ergänzungen durch die Ärztinnen verfassungsrechtlich zu beanstanden sind.

Das Amtsgericht Waren (Müritz) stützt die einstweilige Anordnung der vorläufigen Unterbringung eingangs der Beschlussbegründung darauf, die Voraussetzungen der § 331 Satz 1, § 312 Satz 1 Nr. 3 FamFG in Verbindung mit § 11 PsychKG M-V seien erfüllt, da dringende Gründe für die Annahme bestünden, dass die Voraussetzungen für eine Unterbringungsmaßnahme gegeben seien und mit einem Aufschub eine so erhebliche Gefahr für die Beschwerdeführerin verbunden sei, dass sie sofort untergebracht werden müsse. Insoweit fehlt es an der erforderlichen Sachverhaltsaufklärung. Die Annahme einer die sofortige Unterbringung gebietenden Selbstgefährdung der Beschwerdeführerin ist nicht auf tatsächliche Feststellungen gestützt. Die ärztliche Stellungnahme gibt weder für die Annahme einer Eigengefährdung der Beschwerdeführerin noch für das Vorliegen dringender Gründe dafür, dass mit dem Aufschub der Unterbringung eine Gefahr für die Beschwerdeführerin verbunden gewesen wäre, etwas her. Sie führt lediglich aus, dass die Beschwerdeführerin an einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie leide, in die sie ihre neunjährige Tochter miteinbeziehe, sodass eine fachpsychiatrische Behandlung „wegen einer Gefährdung der Tochter wichtig“ sei. Darauf, dass die Beschwerdeführerin ihr eigenes Leben oder ihre eigene körperliche Unversehrtheit gefährdete, lässt sie nicht schließen. Die Einschätzung der Ärztin H. im Termin fasst das Amtsgericht zwar dahingehend zusammen, dass sich die von der Beschwerdeführerin ausgehende Gefahr sowohl als eigen- als auch zu Lasten der Tochter fremdgefährdend darstelle. Dazu, worin die Eigengefährdung bestehe, wie sie sich zeige und warum sie eine umgehende Unterbringung gebiete, lässt der Beschluss indes keine Sachaufklärung erkennen.

Daneben hält das Amtsgericht Waren (Müritz) est, eine erhebliche, gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Sinne des § 11 Abs. 1 PsychKG M-V bestehe wegen der Gefährdung der Tochter. Diese Schlussfolgerung ist zwar aufgrund der ärztlichen Stellungnahme und der Einlassung der Ärztin H. im Termin nachvollziehbar. Insoweit fehlt es jedoch zum einen an tatsächlichen Feststellungen dazu, dass nach § 331 Satz 1 Nr. 1 FamFG ein dringendes Bedürfnis für eine sofortige Unterbringung der Mutter bestand, sowie zum anderen an der auf der Grundlage dieser Feststellungen vorzunehmenden Prüfung der Verhältnismäßigkeit der sofortigen Unterbringung der Mutter. So ist das Amtsgericht zwar davon ausgegangen, dass die Gefährdung der Tochter nicht anders als durch die sofortige Unterbringung der Mutter abgewendet werden könne. Dabei ist jedoch schon nicht ohne Weiteres ersichtlich und hätte deshalb der weiteren Aufklärung und Prüfung am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bedurft, ob die Unterbringung der Mutter zum Schutz der Tochter geeignet, erforderlich und angemessen war. Wie später das Landgericht ermittelt hat, befand sich die Tochter im Zeitpunkt der Unterbringung der Mutter bei den Großeltern, und das Jugendamt war verständigt. Möglicherweise war einer unmittelbaren Gefährdung der Tochter damit bereits begegnet. Nach der ärztlichen Stellungnahme vom 29.08.2014 lag zudem ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden (§ 331 Satz 1 Nr. 1 FamFG) nicht auf der Hand und hätte deshalb der weiteren Aufklärung bedurft. In der schriftlichen Stellungnahme heißt es lediglich, eine fachpsychiatrische Behandlung sei wegen Fremdgefährdung der Tochter „wichtig“. Dass sie umgehend erfolgen musste, ist nicht ausgeführt. Während der Anhörung ergänzte die Ärztin, eine medikamentöse Behandlung, die nur unter den Bedingungen einer geschlossenen stationären Unterbringung möglich sei, könne alsbald erforderlich werden. Bestand diese Erforderlichkeit nach ärztlicher Auffassung in diesem Zeitpunkt aber noch nicht, hätte zumindest der weiteren Aufklärung und Begründung bedurft, warum sie bereits die vorläufige Unterbringung rechtfertigen sollte.

Der Beschluss des Landgerichts Neubrandenburg beruht ebenfalls auf mangelnder Sachaufklärung und unzureichender Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Freiheitsentziehung. Zwar bleibt offen, ob das Landgericht auch von einer Selbstgefährdung der Beschwerdeführerin ausgeht (dafür spricht, dass es festhält, das Amtsgericht habe die Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 PsychKG M-V nicht nur im Ergebnis zu Recht, sondern auch mit zutreffender Begründung bejaht) oder allein eine Gefährdung der Tochter annimmt (dafür sprechen die weiteren Ausführungen des Landgerichts, die sich darin erschöpfen, es liege eine Fremdgefährdung zu Lasten der Tochter der Beschwerdeführerin vor, da zu befürchten sei, dass die Beschwerdeführerin die Tochter erneut in ihre Wahnvorstellung miteinbeziehen werde). Jedenfalls lässt auch der landgerichtliche Beschluss weder Aufklärung noch Abwägung dazu erkennen, warum die sofortige Unterbringung der Beschwerdeführerin zur Abwehr einer Gefährdung der bereits bei den Großeltern befindlichen Tochter geeignet, erforderlich und angemessen war.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 2. Juni 2015 – 2 BvR 2236/14

Hinterlasse einen Kommentar