Folgen von Fristenablauf für Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls

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Der EuGH hat sich mit der Frage befasst, welche Folgen der Ablauf der Fristen für die Entscheidung über die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls hat.

Der durch einen Rahmenbeschluss von 2002 (2002/584/JI, ABl. L 190, 1, in der durch den Rahmenbeschl. 2009/299/JI, ABl. L 81, 24, geänderten Fassung) eingeführte Europäische Haftbefehl dient zur Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren, die es ermöglichen, eine gesuchte Person einem anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe in diesem Staat zu übergeben. Im Dezember 2012 erließen die britischen Behörden gegen Herrn L. einen Europäischen Haftbefehl. Er wird im Vereinigten Königreich wegen Mordes und Besitzes einer Schusswaffe in lebensgefährdender Absicht strafrechtlich verfolgt, wobei diese Taten dort im Jahr 1998 begangen worden sein sollen. Im Januar 2013 wurde Herr L. von den irischen Behörden auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls festgenommen. Er gab an, dass er seiner Übergabe an die britischen Justizbehörden nicht zustimme, und wurde bis zu einer Entscheidung darüber in Haft genommen.
Die Prüfung der Lage von Herrn L. durch den irischen High Court konnte letztlich erst am 30.06.2014 beginnen, nachdem es insbesondere aufgrund von Verfahrensfragen zu einer Reihe von Verzögerungen gekommen war. Diese Prüfung dauerte noch an, als Herr L. im Dezember 2014 geltend machte, dass die Überschreitung der im Rahmenbeschluss vorgesehenen Fristen für den Erlass einer Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (60 Tage nach seiner Festnahme, mit der Möglichkeit einer Verlängerung um weitere 30 Tage) die Fortsetzung des Verfahrens verbiete. Der High Court möchte vom EuGH wissen, ob er noch über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls entscheiden kann, obwohl diese Fristen nicht eingehalten wurden, und ob Herr L. in Haft behalten werden kann, obwohl die Gesamtdauer seiner Inhaftierung diese Fristen überschreitet.

Der EuGH hat entschieden, dass der Ablauf der Fristen, innerhalb deren über die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu entscheiden ist, das zuständige Gericht nicht von einer Entscheidung hierüber entbindet und schließt es für sich genommen nicht aus, die gesuchte Person in Haft zu behalten. Bei einer übermäßig langen Haftdauer sei jedoch eine Freilassung geboten, die mit den zur Verhinderung einer Flucht der gesuchten Person erforderlichen Maßnahmen zu verbinden sei.

Nach Auffassung des EuGH ist unter Berücksichtigung insbesondere der zentralen Rolle der Pflicht zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls und mangels ausdrücklicher gegenteiliger Anhaltspunkte im Rahmenbeschluss festzustellen, dass die nationalen Behörden auch dann das Verfahren zur Vollstreckung des Haftbefehls fortsetzen und über dessen Vollstreckung entscheiden müssen, wenn die vorgeschriebenen Fristen überschritten wurden. Ein Abbruch des Verfahrens im Fall der Fristüberschreitung wäre nämlich dem Ziel der Beschleunigung und Vereinfachung der justiziellen Zusammenarbeit abträglich und würde Verzögerungstaktiken Vorschub leisten.

Zur Inhafthaltung der gesuchten Person sei auszuführen, dass keine Bestimmung des Rahmenbeschlusses eine Freilassung des Häftlings im Anschluss an den Ablauf der Fristen vorsehe. Außerdem könnte, da das Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nach Ablauf der Fristen fortzusetzen ist, eine generelle und unbedingte Pflicht zu seiner Freilassung nach Ablauf der Fristen die Wirksamkeit des durch den Rahmenbeschluss geschaffenen Übergabesystems einschränken und damit die Verwirklichung der mit ihm verfolgten Ziele behindern.

Der Rahmenbeschluss sei jedoch im Einklang mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und insbesondere dem Grundrecht auf Freiheit und Sicherheit auszulegen ist. Eine auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls in Erwartung ihrer Übergabe inhaftierte Person dürfe nur in Haft behalten werden, solange die Gesamtdauer ihrer Inhaftierung kein Übermaß erreiche.

Um sich zu vergewissern, dass dies nicht der Fall ist, müsse die vollstreckende Justizbehörde (im vorliegenden Fall der High Court) die in Rede stehende Sachlage konkret prüfen und dabei alle zur Beurteilung der Frage, ob die Verfahrensdauer gerechtfertigt ist, relevanten Gesichtspunkte heranziehen (u.a. die etwaige Passivität der Behörden der betreffenden Mitgliedstaaten oder den Beitrag der gesuchten Person zur Verfahrensdauer). Ferner müsse sie berücksichtigen, welche Strafe der gesuchten Person droht oder gegen sie verhängt wurde, ob Fluchtgefahr besteht und ob die gesuchte Person während eines Zeitraums in Haft gehalten wurde, dessen Gesamtdauer die im Rahmenbeschluss für den Erlass der Entscheidung über die Vollstreckung des Haftbefehls vorgesehenen Fristen bei weitem überschreite.

Die vollstreckende Justizbehörde müsse, wenn sie die Inhaftierung der gesuchten Person beendet, nach dem Rahmenbeschluss die vorläufige Freilassung dieser Person mit den ihres Erachtens zur Verhinderung einer Flucht erforderlichen Maßnahmen verbinden und, solange noch keine endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ergangen ist, sicherstellen, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe der Person weiterhin gegeben seien.

Gericht/Institution: EuGH
Erscheinungsdatum: 16.07.2015
Entscheidungsdatum: 16.07.2015
Aktenzeichen: C-237/15 PPU

Quelle: Pressemitteilung des EuGH Nr. 91/2015 v. 16.07.2015 / http://www.juris.de/jportal/portal/t/4×0/page/homerl.psml?nid=jnachr-JUNA150701653&cmsuri=/juris/de/nachrichten/zeigenachricht.jsp

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